Sollten Kinder bereits nach der vierten Klasse in unterschiedliche Schulformen aufgeteilt werden?

(Veronica Tuchtenhagen)

Jährlich stehen circa 800.000 Kinder und ihre Eltern in Deutschland vor der Entscheidung, wie es nach der vierten Klasse weitergehen soll bzw. welche die richtige Schulform für ihr Kind ist. Durch die anhaltende Corona-Pandemie wird es für die Lehrer*innen noch schwieriger, Grundschüler*innen eine Prognose oder eine Empfehlung an die Hand zu geben, wie denn auch, wenn so viele im sogenannten „homeschooling“ sind? Umso mehr müssen Eltern jetzt auf ihr Bauchgefühl und die Aussagen der Grundschullehrer*innen vertrauen und einschätzen können, ob ein Gymnasium, eine Realschule oder eine Hauptschule die jeweils richtige Schule für ihr Kind ist. Aber ist es überhaupt richtig, bereits so früh über die weitere Schulentwicklung eines so jungen Menschen zu entscheiden?

Wie wäre es, wenn diese Entscheidung grundsätzlich aufgehoben wird, indem man sein Kind auf eine Gesamtschule schickt? Einer Schulform, in der man die intellektuelle und persönliche Entwicklung eines Kindes erst einmal abwarten kann, ohne dass es von Anfang an festgelegte Standards erfüllen muss und im schlimmsten Fall an ihnen zu scheitern droht? Mit dem Übergang auf eine Gesamtschule muss nicht unbedingt schon nach der vierten Klasse über einen bestimmten angestrebten Schulabschluss entschieden werden. Oft ist dabei umstritten, ob eine Gesamtschule die gleiche Aussicht auf Erfolg mit sich bringt, ein gutes Abitur zu schaffen. Oder wäre es vielleicht doch besser, wenn es irgendeine Chance auf Erfolg gibt, sein Abitur zu machen, direkt auf das Gymnasium zu gehen?

Entscheidet man sich gegen die Aufteilung in feste Schulformen nach der vierten Klasse und entscheidet sich für die Gesamtschule, so ist es damit aber noch nicht getan. Gesamtschule ist ja nicht gleich Gesamtschule. Es wird unterscheiden zwischen einer kooperativen und einer integrierten Form. In der kooperativen Gesamtschule werden Kinder nach der vierten Klasse zwar in Gymnasial-, Realschul- und Hauptschulklassen aufgeteilt, befinden sich aber alle innerhalb einer Schule und auf einem Schulgelände. Ein Schulzweigwechsel ist hier relativ einfach: sobald man merkt, dass die Schüler*innen überfordert oder unterfordert sind, ist eine Umstufung jederzeit möglich. In einer Integrierten Gesamtschule dürfen Kinder nach der vierten Klasse ohne jegliche äußere Differenzierung in die Mittelstufe gehen. Ab Klasse sechs kommen Jahr pro Jahr in mehr

Kursfächern unterschiedliche Kursniveaus hinzu, es wird zwischen dem Grundkurs und dem Erweiterungskurs unterschieden. Aber alle Schüler*innen besuchen die gleiche Klasse.
Ich persönlich kenne beide Arten der Gesamtschulen. Der Gymnasialzweig im kooperativen System ist letztendlich wie ein eigenständiges Gymnasium, aber es sind in der Pause eben auch Haupt- und Realschüler*innen auf dem Pausenhof. Nach meinem Umzug nach Wiesbaden stellte ich fest: Meine Integrierte Gesamtschule geht anders vor und ich bin nicht konstant Leistungsdruck ausgesetzt und gleichzeitig werde ich meiner Ansicht nach um einiges mehr gefördert und herausgefordert. Da es sich hier aber lediglich um meine eigenen Erfahrungen handelt, stelle ich die Frage zur Diskussion: Sollten Kinder bereits nach der vierten Klasse in unterschiedliche Schulformen aufgeteilt werden?

Offensichtlich keine leichte Frage. Zunächst einmal vertreten viele, so wie auch der Präsident des deutschen Lehrerverbandes Josef Kraus die Meinung, dass gar nicht in einzelne Schulformen „sortiert“ wird. Vielmehr würden die Kinder in einzelnen Schulformen individueller gefördert und man könne besser auf ihre jeweiligen Stärken und Schwächen eingehen. Differenzierte man später oder gar nicht, würde jeweils ein Drittel der Schülerschaft überfordert oder unterfordert sein (Kraus, 2015). Es sei auch zu berücksichtigen, dass Kinder und Jugendliche durch die feste Schulform ein klares Ziel vor Augen hätten, nämlich den jeweiligen Abschluss ihres Bildungsgangs. So stehe in der Regel schon für einen Fünftklässler auf dem Gymnasium fest, dass er auf sein Abitur hinarbeitet (Kraus 2015). Einige Kinder und Jugendliche sehen dies vielleicht als Motivation, bei anderen Kindern löst es nach Misserfolgen evtl. noch mehr Druck aus. Ebenfalls darf nicht in Vergessenheit geraten, dass, spätestens, wenn es um den angestrebten Schulabschluss geht, wohlmöglich nicht auf eine Differenzierung verzichtet werden kann, hier benötigt man die Einteilung. Aber wie sinnvoll ist es sich immer noch an diese alten Strukturen zu hängen? Schon lange ist klar, dass sich ein gutes Schulsystem durch verlässlichen Umgang mit den Stärken und Schwächen von Schülern und Jugendlichen auszeichnet. Ebenfalls ist zu bedenken, dass eine qualitative Beratung für die schulische Laufbahn und den schulischen Abschluss an erster Stelle stehen und in jedem Fall individuell sein sollte. Oft geht es vorrangig nicht um die intellektuelle Entwicklung des Kindes. Den größten Einfluss auf den Bildungserfolg hat in Deutschland leider immer noch die soziale Herkunft eines Kindes. Dazu basiert vieles auf festgelegten Lernzielen, die das Kind oder der/die Jugendliche je nach intellektueller Entwicklung am

Ende doch nicht stemmen kann. Nicht zu vergessen ist, dass Schule und Unterricht sich bestenfalls an die Schüler*innen anpassen und nicht umgekehrt. Wenn Kinder und Jugendliche im Gymnasium beispielsweise überfordert sind, so wird meist mit Druck und auf Krampf versucht, die gewünschte Leistung von dem Kind zu bekommen, dies führt allerdings oftmals zum völligen Abblocken der Schüler und Schülerinnen, da sie dem Druck einfach nicht standhalten können. Durch diese Misserfolge bekommen Kinder und Jugendliche nicht selten das Gefühl „dumm“ zu sein, obwohl sie intelligent sind. Diese Rückmeldung an das Kind ist fatal, weil es damit sein Selbstkonzept negativ ausrichtet.
Es kommt durchaus vor, dass ein Schüler oder eine Schülerin nach einem Wechsel auf eine andere Schule oder in eine andere Schulform plötzlich keinen Notenschnitt von 3,9 mehr hat, sondern 1,5. Solche Verbesserungen bestätigen, dass Lernerfolg meist eine Frage der Herangehensweise und der Beziehung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen ist. Nachdem ein Schüler oder eine Schülerin die ersten Erfolge in der Schule sieht und den Schulalltag nicht mehr durch Leistungsdruck und Misserfolge geprägt erlebt, wird er oder sie in den meisten Fällen Motivation entwickeln. Auch ich habe dieses Szenario erlebt. Ich habe das Gefühl, es gibt eine riesige Dunkelziffer von Kindern und Jugendlichen, die genau in diesem Teufelskreis stecken und keinen Ausweg finden. Und die Pandemie mit dem Gefühl des Allein-gelassen-werdens hat das noch verschlimmert.

Viele Kinder und Jugendliche besuchen ein Gymnasium, weil in unserer Gesellschaft die Meinung vorherrscht, dass man es sonst nicht schaffen würde, etwas zu erreichen. Eltern folgen dieser Norm und schicken ihre Kinder zum Gymnasium. Meiner Meinung nach sollte die Priorität aber ganz woanders liegen, nämlich im Recht auf die unbedingte psychische Gesundheit der einzelnen Schüler*innen. Eventuell ist es für Außenstehende nicht unbedingt einfach nachzuvollziehen, wie man sich in der Mittelstufe fühlt, wenn man überfordert ist, das Gefühl hat schlechter als „die anderen“ zu sein und nahezu täglich schlechte Noten mit nach Hause zu bringen. Kommen dann noch private Probleme hinzu, ist es fast unmöglich mit sich selber zufrieden und glücklich zu sein. Und das ist doch das Wichtigste im Leben von Kindern und Jugendlichen. Dass sie merken, dass sie okay sind, so wie sie sind. Dass sie anerkannt werden, weil sie „da“ sind und nicht, weil sie lauter Einsen mit nach Haus bringen. In der Schule müssen die Prioritäten auf individuelle Förderung, Selbsteinschätzung und soziale Kompetenzen gesetzt werden.

Dazu kommt, dass Deutschland oft bei wirtschaftlichen Studien sehr gut abschneidet, während das gleiche Land bei mehreren wissenschaftlichen Studien bezüglich Erfolgen und Leistungsbilanzen des Schulsystems und auch bei der Pisa Studie „nur“ im Mittelfeld

bewegt. Warum? Zu frühes Gliedern in verschiedene Schulformen führt zu mehr Bildungsversagen und schadet somit der Leistungsbilanz des deutschen Schulsystems enorm, bestätigt Marlies Tepe, Vorsitzende der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (Tepe, 2015). Besonders wichtig aber scheint mir, dass man die intellektuelle Entwicklung eines neun- oder zehnjährigen Kindes nicht vorhersehen kann. Somit sind Festlegungen auf eine einzige Schulform nach der vierten Klasse vollkommen überholt und vor allem ungerecht. Man kann nicht alle Schüler*innen über einen Kamm scheren, es gibt Kinder, denen fällt die Schule leichter und sie sind leistungsstärker und es gibt Kinder, die genauso intelligent sind, aber in ihrer sozial-emotionalen Entwicklung viel mehr Unterstützung benötigen. Abgesehen von den überforderten Schülern und Schülerinnen gibt es aber noch eine weitere Gruppe, die unter dem System leiden: Durch eine zu frühe Differenzierung, wird auch sogenannten „Spätzündern“ die Chance auf einen Schulabschluss, der ihr Potential tatsächlich abbildet, genommen. Und das ist wirklich ungerecht.

Leider gibt es niemanden, der den Eltern bzw. Kindern diese schwere und wichtige Entscheidung abnimmt und sollte sich nicht bald sehr viel im Deutschen Schulsystem verändern, wird das vermutlich so bleiben.
Integrierte Gesamtschulen sind eine Möglichkeit, dieser schweren und folgenreichen Entscheidung ein Stück weit aus dem Weg zu gehen. Für die Kinder derjenigen Eltern, die dennoch darauf bestehen, ihr Kind „unbedingt“ ins Gymnasium zu schicken, kann ich nur hoffen, dass es zum einen auch ihre Entscheidung war und sie zum anderen dem schulischen und damit auch dem psychischen Druck standhalten können.

Egal, welche Entscheidung Sie treffen, diese Entscheidung ist für ihr Kind von enormer Bedeutung und wird einiges in seinem Leben verändern und neu bestimmen. Schauen Sie bei Ihrer Schulentscheidung also realistisch auf die Stärken und Schwächen Ihres Kindes. Orientieren Sie sich nicht an anderen Eltern aus der Grundschulklasse, die diese Frage am Ende nicht ernst genug betrachtet haben oder im schlimmsten Fall ihre eigenen Wünsche und Absichten über das Wohl ihrer Kinder gestellt haben. Machen Sie sich frei von der Vorstellung, dass man nur dann Erfolg haben könne, wenn man zum Gymnasium geht. Und wenn man das verstanden hat, lässt sich meine Erörterungsfrage klar mit „Nein“ beantworten. Kinder und Jugendliche sollten nicht länger in „Schulform-Schubladen“ gesteckt werden.

Literaturverzeichnis:

Heidenfelder, Eva: „Immenser Stress für Familien“

https://www.focus.de/familie/schule/uebertrittstest/kinder-zerbrechen-am-druck-der- uebertritt-nach-der-4-klasse_id_6659233.html
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Lenzen, Lucia: „Endspurt vierte Klasse: Grundschüler unter Druck“ https://www.mainpost.de/regional/main-spessart/endspurt-vierte-klasse- grundschueler-unter-druck-art-10167450

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Fritz, Dagmar: „Übertritt: Welche Schule ist geeignet?“ ht://www.rund-ums-baby.de/schule/uebertritt-welche-schule-ist-geeignet.htm (zuletzt geöffnet am 08.03.2021 um 14:28 Uhr)
Holl, Annette: „Wohin nach der 4. Klasse? Warum das Verhalten Ihres Kindes so wichtig ist?“

https://www.elternwissen.com/schule-und-eltern/uebertritt- gymnasium/art/tipp/wohin-nach-der-4-klasse-warum-das-verhalten-ihres-kindes-so- wichtig-ist.html
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Friedmann, Jan und Goos, Hauke: „Umfrage: Sollten Schüler nach der Grundschulzeit“ https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/umfrage-sollten-schueler-nach-der- grundschulzeit-sortiert-werden-a-1009999.html werden? – DER SPIEGEL
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„Schulformen: Welche Schule passt zu meinem Kind?“ https://www.oekotest.de/kinder-familie/Schulformen-Welche-Schule-passt-zu- meinem-Kind_96603_1.html
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Eissele, Ingrid u. A.: „BILDUNGSSYSTEM: Die richtige Schule für mein Kind | STERN.de“ https://www.stern.de/familie/bildungssystem-die-richtige-schule-fuer-mein-kind- 3816540.html (zuletzt geöffnet am 08.03.2021 um 14:34 Uhr)
Kraus, Josef: „Umfrage: Sollten Schüler nach der Grundschulzeit…?“ https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/umfrage-sollten-schueler-nach-der- (zuletzt geöffnet am 08.03.2021 um 14:31 Uhr)

Tepe, Marlis:„Umfrage: Sollten Schüler nach der Grundschulzeit“

https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/umfrage-sollten-schueler-nach-der- grundschulzeit-sortiert-werden-a-1009999.html werden? – DER SPIEGEL
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